Als Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes SGB erklärt Pierre-Yves Maillard, warum die Wirtschaftspolitik von der Gesellschaft nur bedingt gutgeheissen wird. Steuersenkungen für Unternehmen würden nicht mehr goutiert, so der oberste Gewerkschafter der Schweiz.
Pierre-Yves Maillard, Die Pandemie war und ist für die ganze Schweizer Volkswirtschaft eine grosse Belastung. Wie hat sich die Wirtschaft in Ihren Augen während der Krise verhalten?
Es war ein unglaublicher Schock. Wir hatten bis zu 1,5 Millionen Arbeitnehmende in Kurzarbeit und Zehntausende von Selbstständigen in der Erwerbsausfallversicherung. Der SGB hatte bereits Anfang März 2020 die Schaffung dieser Verdienstausfallversicherung sowie die Ausweitung und Vereinfachung der Kurzarbeit gefordert. Dieses Ziel haben wir erreicht und zudem im Parlament einen besseren Ausgleich für sehr niedrige Löhne durchgesetzt. Wir forderten den Bundesrat immer wieder auf, die von seinen Massnahmen betroffenen Einkommen auszugleichen. Es gab viel Leid, einige Unternehmerinnen und Unternehmer haben viel verloren, doch die ausgewogene und auf Sozialpartnerschaft basierende Strategie hat dazu beigetragen, dass die Schweiz diese Krise besser gemeistert hat als viele andere Länder.
Nun hinterlässt auch noch die Invasion in die Ukraine erste Spuren in der Schweizer Wirtschaft. Und die Pandemie wirkt immer noch nach. In den gewerblichen Branchen führen die höheren Materialpreise zu Auftragseinbussen und Stornierungen. Die Exportindustrie wird die Abschwächung der Weltkonjunktur spüren. Haben Sie Angst vor steigender Arbeitslosigkeit?
Es gibt so viele Gründe, besorgt zu sein, dass wir gezwungen sind, gegen die auf-kommende Angst anzukämpfen. Wenn der Krieg in der Ukraine andauert, weiterhin so viel Leid verursacht und so grosse wirtschaftliche Auswirkungen hat, muss der Bundesrat wahrscheinlich erneut eine Strategie der engen Abstimmung mit den Sozialpartnern verfolgen. Gefordert ist die Entwicklung neuer Instrumente zur Unter- stützung von Beschäftigung, Innovation und Kaufkraft.
Pierre-Yves Maillard, Präsident Schweizerischer Gewerkschaftsbund
«Ich denke, das Vertrauensverhältnis auf der Unternehmensebene ist besser als jenes im Bereich der globalen Wirtschaftspolitik.»
Wie gross ist heute das Vertrauen der Schweizer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in ihre Arbeitgebende?
Ich denke, das Vertrauensverhältnis auf der Unternehmensebene ist besser als jenes im Bereich der globalen Wirtschaftspolitik. Die Einkommens- und Kaufkraftkrise wird sich sowohl für Arbeitnehmende als auch für Rentnerinnen und Rentner verschärfen. Doch die getroffenen Massnahmen dienen denjenigen, die aktuell bereits viel verdienen. Das ist inakzeptabel.
Vergangene Abstimmungen zeigen, dass die Stimmberechtigten eine eher ablehnende Haltung gegenüber der Wirtschaft haben. Woher kommt diese Skepsis, dieses Misstrauen?
Wenn die Krankenkassenprämien fast 20 Prozent des Einkommens einer Familie ausmachen, die Miete 30 Prozent, die direkten Steuern 20 Prozent, dann fallen bereits 70 Prozent Fixkosten an. Das heisst, 70 Prozent des Einkommens sind bei Monatsbeginn bereits ausgegeben. Und die Familie hat noch nicht einmal die erste Packung Spaghetti gekauft… Vor diesem Hintergrund werden Forderungen für weitere Steuersenkungen für Unternehmen oder die Reichsten der Gesellschaft von Menschen mit einem durchschnittlichen Einkommen nicht mehr goutiert. Das ist verständlich und überrascht nicht.
Die Schweizer Wirtschaft wird oft für soziale und für ökologische Probleme verantwortlich gemacht. Hat sich diese Einschätzung in den letzten Jahren verschärft?
Probleme bezüglich Verteilung des Reichtums und im Bereich Nachhaltigkeit führen zu einer Krise in unserem Wirtschaftssystem. Diese Krise müssen wir ernst nehmen und mit geeigneten Massnahmen entgegenwirken. Es braucht einen neuen weitreichenden Kompromiss für die notwendigen Massnahmen. Wir sehen drei mögliche Wege, um dieses Ziel zu erreichen. Es braucht massive Investitionen in erneuerbare Energien und zusätzliche Investitionssicherheit durch Minimierung der Risiken der Markt-mechanismen. Für Durchschnittsverdiener braucht es eine Entlastung der Fixkosten, indem Krankenversicherungsprämien gedeckelt und Renten sowie Löhne angehoben werden.
Und wie könnte die Kluft zwischen Wirtschaft und Gesellschaft trotzdem kleiner werden?
Wie ich bereits erwähnt habe: Es braucht öffentliche oder private Investitionen für die Energiewende und eine grosse Umverteilung zur Stärkung der Kaufkraft. Die Geschichte zeigt, dass dies möglich ist. Nun liegt es an uns, diese Herausforderungen anzunehmen.
Wie tönt für Sie der Slogan «Wir alle sind die Wirtschaft»?
Ja, das ist so: Die Wirtschaft besteht aus der Arbeit von allen, egal ob angestellt oder selbstständig. <
Lesen Sie den ganzen Artikel als PDF.
Zur Person
Pierre-Yves Maillard, Präsident des Schweizerischen Gewerk-
schaftsbundes, wurde 2018 im ersten Wahlgang zum
SGB-Präsidenten gewählt. Der Waadtländer war SP-Regie-
rungsrat und stand dem Departement für Gesundheit und
Soziales vor. Maillard studierte an der Universität Lausanne
und arbeitete als Oberstufenlehrer. Er gehörte von 1990 bis
1998 dem Gemeinderat von Lausanne, dann von 1998 bis
2000 dem Grossen Rat des Kantons Waadt an. Von 1999 bis
2004 war er Nationalrat.