Lukas Golder: «Die Wirtschaftsakteure sind in den letzten Jahren etwas unter Druck gekommen.»

Das Forschungsinstitut gfs.bern erhebt seit 1995 das Sorgenbarometer. Die jährliche Studie zeigt auf, bei welchen politischen Fragen und Themenbereichen die Stimmberechtigten besonders grossen Handlungsdruck sehen. In einem Gespräch sagt Lukas Golder, Co-Leiter des Forschungsinstituts gfs.bern, wie er das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Gesellschaft einschätzt.

Lukas Golder

Lukas Golder, die Corona-Pandemie war und ist zweifelsohne eine Belastung für die ganze Schweizer Volkswirtschaft – für KMU wie für Individuen. Dennoch sagt eine Mehrheit der Bevölkerung gemäss der gfs-Studie «Sorgenbarometer» von sich, dass es ihnen sehr gut oder gut geht. Offenbar ist die Angst, dass der Wohlstand gefährdet sein könnte, klein?
Die Schweiz hat sich in den letzten Krisen als resilient erwiesen. Das Modewort ist passend, weil mittlerweile auch die Schweizer Bevölkerung auf internationale Krisenphänomene in Befragungen gelas- sen reagiert und auf schnelle Erholung hofft. Das gilt etwas weniger für Medien: Sie haben nach dem Platzen der Dotcom- Blase, auf die Bankenkrise und auch bei Covid in der ersten Phase die Schweiz vor grössere Herausforderungen gestellt gesehen als sich dies dann im Alltag beispielsweise beim Wohlstand oder beim wirtschaftlichen Rückgang ausdrückte. Die Wellen wurden grösser gemacht als sie dann empfunden wurden. Das Vertrauen in die Medien hat gelitten, das Selbstvertrauen der Schweizerinnen und Schweizer in die eigene Erholungskraft nicht. Der Stolz auf das eigene Land ist nach 2000 gemäss CS-Identitätsbarometer gewachsen und erscheint mir in den Krisenzeiten nun etwas gefährlich hoch. In Krisenzeiten sind die Gezeiten in meinen Augen effektiv gefährlich.

Und wie gross ist das Vertrauen der Schweizerinnen und Schweizer in die Politik und Wirtschaft – nach der Corona-Pandemie?
Wirtschaftsakteure sind in den letzten Jahren etwas unter Druck gekommen, die Regierung kaum: Das Vertrauen in die Institutionen der Schweiz ist intakt und gerade das Vertrauen in die Regierung in der Regel auch im internationalen Vergleich hoch. Zwar ist die Konkordanz gefährdet und die Regierung arbeitet zurzeit nicht sehr kooperativ zusammen, aber die Beteiligung der wesentlichen politischen Kräfte in der Regierung dürfte ein wichtiges Element des Regierungsvertrauens sein.

Und bei der Wirtschaft?
Bei der Wirtschaft muss man etwas differenzieren. Wir haben verschiedene öffentlich zugängliche Umfrageserien verglichen. Über zehn Jahre hinweg hat das Wirtschaftsvertrauen grundsätzlich nicht gelitten. Es gilt jedoch zu unterscheiden: Banken kamen bereits in den Neunzigerjahren unter Druck und leiden seither unter einem angeschlagenen Image. Ausserdem geniessen KMU, Genossenschaften und Familien-AGs strukturell ein höheres Ansehen als Grossunternehmen.

Vergangene Abstimmungen zeigen, dass die Stimmberechtigten eine eher ablehnende Haltung gegenüber der Wirtschaft haben. Was ist passiert?
Die Globalisierung hat das Gesicht der Grossunternehmen verändert und auch die Politik musste auf internationale Veränderungen reagieren. Bei den Grossunternehmen hat wohl bereits in den Neunzigerjahren eine gewisse Entfremdung stattgefunden. Durch die grossen wirtschaftlichen Erfolge und die grosse Erholungskraft der Wirtschaft haben sich einige an die quartalsweisen Erfolgsmeldungen der Schweizer Konzerne gewöhnt. Die Konzerne profitieren von der Globalisierung, aber es gelingt ih- nen nicht, verstärkt Vertrauen in ihren Heimmärkten oder im für hochwertige Produkte wichtigen Absatzmarkt Schweiz aufzubauen. Eine Mehrheit der Bevölkerung hat Ja zur Konzernverantwortungsinitiative gesagt, obwohl sich die Wirtschaft stark dagegen wehrte. Hier sehe ich den Kern des Problems: Man wünscht sich mehr gesamtgesellschaftliche Verantwortung der Konzerne.

LUKAS GOLDER, CO-LEITER gfs.bern

«KMU, Genossenschaften und Familien-AGs geniessen strukturell ein höheres Ansehen als Grossunternehmen.»

Auf der anderen Seite sind laut Ihrer Studie «Sorgenbarometer» alle der befragten Stimmberechtigten (95%) der Ansicht, die Schweizer Wirtschaft stehe im Vergleich zur ausländischen sehr oder eher gut da. Liegt diese Überzeugung im Clinch mit den Abstimmungen?
Die kurze Antwort lautet aus meiner Sicht: Nein, denn es stimmt: Wir stehen gut da. Und das obwohl aus Wirtschaftskreisen oft zu hören ist, das liberale Erfolgsmodell der Schweiz sei gefährdet. Der Staat und staatsnahe Branchen wachsen zwar in erster Linie, aber wir stehen weiterhin gut da und die Schweiz ist konkurrenzfähig.

Während der Bekämpfung der Pandemie waren neben den Behörden die Schweizer KMU wichtige Akteure. Eigentlich der ideale Zeitpunkt, das Vertrauen in der Gesellschaft zu stärken?
Jeder Zeitpunkt ist wichtig, um Vertrauen zu stärken. In einer komplexen, krisen- behafteten und vernetzten Welt müssen auch organisierte Akteure «Sozialkapital» aufbauen. Vertrauen ist ein menschliches Urbedürfnis und eine grosse Ressource – nicht zuletzt, um erfolgreich zu investieren und um erfolgreiche Geschäfte zu machen. Als Politologe bin ich überzeugt: Eine vielschichtige, konkordante Demokratie ist langfristig die beste Antwort, um Vertrauen der Bevölkerung aufzubauen. Das gilt für den Frieden, für die Sicherheit und eben auch für die Wirtschaft. Auch globalisierte Wirtschaftsakteure sollten sich konkret, nahbar und unmittelbar für Demokratie stark machen.

Ist die Gesellschaft heute besser informiert und dadurch kritischer bei Abstimmungen als noch vor 20 Jahren?
Die Medien selbst haben wie gesagt am meisten Vertrauen verloren. Die Digitali- sierung verändert unseren Medienkonsum. Wir sind mittlerweile gefangen von unseren Smartphones und Opfer einer Informationsüberflutung. Das Risiko steigt, dass Fehlinformationen zu individuell falschen Abstimmungsentscheidungen führen. Falsch meint hier, dass jemand eine andere persönliche Entscheidung fällt als dies bei vollständiger Informiertheit der Fall gewesen wäre. Das Bewusstsein, dass gute Information auch kostet, ist bei vielen Menschen nicht oder nicht mehr vorhanden. Damit besteht die Gefahr einer Abwärtsspirale, denn je mehr den heute noch hochwertigen Informationsangeboten das Geld fehlt, desto mehr leidet auch die Qualität und damit das Vertrauen. Damit wäre wohl eher das Gegenteil wahr als Ihre Frage suggeriert: Das Risiko steigt, dass die Stimmenden im Mittel schlechter informiert sind als noch vor zwanzig oder dreissig Jahren.

Und bei den Abstimmungen?
Bei Abstimmungen haben sich bei vielen Routinen entwickelt, um sich weiterhin, auch in emotionalen Debatten eine gut begründete Meinung zu bilden. Je besser aufgeklärt jemand individuell entscheidet, desto besser ist langfristig auch das Resultat. Die Forschung zur direkten Demokratie zeigte immer wieder: Die Menschen sind bei Abstimmungen besser informiert, als Pessimistinnen meinen und schlechter als Optimisten glauben. Ich bleibe optimistisch!

Die Schweizer Wirtschaft wird oft zum kapitalistischen Sündenbock und für soziale sowie für ökologische Probleme verantwortlich gemacht. Hat sich diese Einstellung in den letzten Jahren verschärft?
Politisch hat sich die Polarisierung verschärft. Die linken Parteien waren schon immer im europäischen Vergleich sehr links und das obwohl, die SP mit einer Bundesrätin und einem Bundesrat doppelt in der Regierung vertreten ist. In den Neunzigern ist die SVP auf einen scharfen Rechtskurs eingeschwenkt, hat sich zur Lead-Partei entwickelt und ist nun ebenfalls doppelt im Bundesrat vertreten. Die Pole haben die Mehrheit. Dies ist zwar bei Wählerinnen und Wählern gut angekommen, hat aber den Ton vor allem auch im Parlament verschärft und die Zusammenarbeit im Bundesrat erschwert. Der Angriff auf den Kapitalismus kommt von links, aber die Linke ist in den letzten Jahren insgesamt nicht stark gewachsen. Gewachsen ist das Bewusstsein der moderaten Kräfte, dass es mehr Ausgleich braucht. Die GLP-Erfolge der letzten kantonalen Wahlen sind ein Hinweis, was momentan besonders Konjunktur hat: Eine Wirtschaft, die vor allem auch in Klimafragen mehr Verantwortung übernimmt.

Was halten Sie vom Slogan «Wir alle sind die Wirtschaft»?
Die Wirtschaft hat sich globalisiert und spezialisiert. Selbst der Begriff KMU ist heute fast schon irreführend, wenn man die Heterogenität der Betriebe und auch ihrer Gesellschaftsformen vor Augen hat. Nimmt man beispielsweise staatsnahe Betriebe, so wirkt der Slogan schon komplett anders als bei einer Genossenschaft oder bei einer in den USA kotierten Aktiengesellschaft. Die Wirtschaft hat viele Gesichter. Aus meiner Sicht ist es eher sinnvoll, dass diese verschiedenen Gesichter wieder fassbar werden. Was macht unser Betrieb für die Gesellschaft? Wie und wo erarbeiten wir einen konkreten Mehrwert? Ein Wir-Gefühl lässt sich mit dem pauschalen Slogan wohl nicht herbeireden.

Ihr Forschungsinstitut gfs.bern erhebt seit 1995 das Sorgenbarometer. Diese jährliche Studie zeigt unter anderem auf, dass ein Teil der Medien und die Kirche weiter an Ansehen und Vertrauen verloren haben. Was braucht es, um Vertrauen zurückzugewinnen?
Die Individualisierung ist ein Megatrend. Die Wirtschaft versucht hier mit sehr in- dividualisierten Lösungen näher an die Kundschaft zu kommen und ihre Bedürf- nisse ernst zu nehmen. Komplette Individualisierung ist aber letztlich der Zusam- menbruch eines Systems. Wenn jede und jeder nur noch das glaubt, kauft oder liest, was für ihn oder sie individuell das Beste ist, dann landen wir im Chaos. Letztlich sind in einer Gemeinschaft alle Stakeholder entscheidend. Ein Ausgleich der Bedürfnisse zwischen den Anspruchsgruppen ist zentral. Das ist auch für Kir- chen keine Glaubensfrage, sondern eine von transparenten und professionellen Dialog-Prozessen.

Sehen Sie als politischer Kommunikator einen Weg, den Dialog unter allen Akteuren grundsätzlich zu verbessern? Oder eher eine «Mission impossible»?
Nur ein gut funktionierender Stakeholder-Dialog sichert langfristig einen Zu- sammenhalt zwischen den Teilsystemen und damit die Stabilität des Systems an sich. Ich glaube da langfristig für alle Systeme an Mitbestimmung und demokrati- sche Prozesse. Wenn ich nicht daran glauben würde, dann wäre ich mit zwanzig Jahren Meinungsforschung im falschen Beruf gelandet. Aber selbst Meinungsfor- schung macht in einer komplett individualisierten Welt keinen Sinn mehr.

Seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine beweist die ganze Schweiz Solidarität. Der Bundesrat hat Sanktionen ausgesprochen. Flüchtlinge werden von Privatpersonen aufgenommen. Und einige Unternehmen offerieren Arbeitnehmenden monatlich einen finanziellen Zuschuss, die Flüchtlinge beherbergen. Ist das eine intakte Volkswirtschaft?
Der Krieg führt uns vor Augen, wie vernetzt und verletzlich wir heute sind. Der Angriff von Russland hat mich schockiert. Wirtschaft, Politik und Gesellschaft sind fundamental gefordert. Die «Volkswirtschaft» macht bis heute viele Geschäfte mit Russland und profitierte von Geschäften mit der Ukraine beim Stahl, in der Landwirtschaft oder der IT. Nun ist es Zeit für Solidarität und Moral und den Kampf für die Demokratie. Wie gut das schon gelingt, kann ich nicht be- urteilen.

Politische Stabilität, Solidarität, Wohlstand und eine intakte Umwelt sind globale Themen. Rücken wir nun doch näher zusammen?
Die Globalisierung wurde zu lange in erster Linie wirtschaftlich verstanden. Natür- lich sind auch heute viele Probleme global und die Herausforderungen steigen. Eine rein nationalistische oder einseitig wirtschaftliche Perspektive ist nicht geeignet, um diese Dimension von Herausforderungen anzugehen. <

Lesen Sie den ganzen Artikel als PDF.

Zur Person

Lukas Golder, Co-Leiter und Präsident des Verwaltungsratsdes Forschungsinstituts gfs.bern, ist Politik- und Medienwissenschafter und hat an den Universitäten Bern und Genf studiert. MAS FH in Communication Management, Dipl. Chief Digital Officer, Dozent für Digitales Campaigning am CAS Strategic and Corporate Communication der Hochschule Luzern und für politische Kampagnen und ihre Wirkung am Executive MPA KPM Universität Bern. Golder schloss 2020 eine Ausbildung zum Chief Digital Officer am Schweizerischen Institut für Betriebsökonomie ab.

[/vc_column_text][/vc_column][/vc_row]