Die Coronakrise ist eine gigantische Dekonstruktion des Alltags und der wirtschaftlichen Wirkungsbeziehungen. Sie sprengt Normalität, vernichtet bis dato verbreitete Vorstellungen des Zukünftigen und öffnet neue Möglichkeitsräume. «Die Pandemie führt viele Unternehmen an einen Punkt, an dem sie sich neu erfinden müssen. Sie begeben sich auf eine Rückwärtsschleife der Erneuerung», veran- schaulicht Harry Gatterer, Trend- und Zukunftsforscher. Er weist auf den Resilienzzyklus hin, der deutlich zeigt: «Am kritischen Punkt der Bifurkation gibt es zwei Möglichkeiten: Den Versuch, am alten Status quo festzuhalten, das Zurück ins alte Spiel – oder den Sprung in die Innova- tion, hin zu einem Neustart, einem neuen Spiel.» Dieses neue Spiel erfordere von allen Unternehmen eine permanente Adaption – und damit auch ein neues, ganzheitlicheres Verständnis von Innovation. In diesem dynamischen Prozess der Erneuerung werden klassische Ziele wie Umsatzsteigerung oder Key Performance Indi- cators KPIs als das deutlich, was sie sind: Mittel zum Zweck. Entscheidend für wirt- schaftlichen und gesellschaftlichen Erfolg wird künftig aber die Frage der erfolgreichen Adaption – und damit auch: der zukunftsfähigen Innovation. «Denn adaptiv sein kann nur, wer in der Lage ist, richtig zu innovieren», so Gatterer, der Geschäftsführer eines Trendforschungsinstituts in Frankfurt ist. Wer dabei jedoch nur auf Schnelligkeit setzt, kann auch schnell das Falsche tun. «Jetzt geht es darum, das Richtige richtig zu tun, mit Blick auf die grossen Zusammenhänge. Das ist nicht nur eine Frage von kaufmännischem Ge- schick, sondern vor allem von Haltung und Mindset», hält der Forscher fest. Es geht um das Verstehen und Nutzen von Komplexität, um den Aufbau von Ökosystemen «statt Ego-Systemen», um die Re- Fokussierung auf Wirkungen statt auf Ergebnisse. «Jetzt ist die Zeit gekommen, Innovation komplexer zu denken.»
In der Prä-Corona-Ökonomie war Innovation zu einer Wettbewerbspflicht mutiert, zu einem Selbstzweck. Die Attribute «neu» und «innovativ» galten als Garant für grenzenloses Wachstum und Fortschritt, angetrieben von einer volatilen Umwelt und der unternehmerischen Angst vor der Disruption durch die noch schnel- lere Konkurrenz. Innovationen waren deshalb oftmals synonym mit Inventionen: «Diese vermeintlichen Innovationen waren dann nur noch neu im Sinne von Neuerfindungen – und dabei nicht mehr unbedingt sinnvoll oder nützlich. Der Fokus lag auf Profit und Gewinnen, Produkte sollten vor allem durch ihre Erscheinung, Inszenierung und Positionierung bestechen», betont Harry Gatterer und gibt zu bedenken, dass rund die Hälfte aller Start-ups scheiterten: «Weil sie keinen echten Market Need bedienten.» Eng verbunden mit diesem oberflächlichen Innovationsverständnis war und ist ein naiver Glaube an die Kraft der Kreativität. «In der Kreativökonomie gelten kreative Handlungen und Produkte per se als erstrebenswertes Pro- duktionsziel und als Garantie für Innovationserfolge. Überall wird daher versucht, die Kreativität zu kontrollieren und für Innovation verfügbar zu machen.» Harry Gatterer fasst zusammen: Ideenworkshops und Kreativitätsmethoden wie das Design Thinking hatten Hochkonjunktur, und eine Fülle von erwartbaren «Innovationen» fluteten die Märkte. Wo Fortschritt aber zum Standard wird und das Neue zum Normalmodus, könne es den eigentlichen Ansprüchen an echte Innovationen – als etwas Unerwartbares, noch nicht Dagewesenes – nicht genügen.