Bischof Felix Gmür: «Die Gesellschaft hat vergessen, woher der Wohlstand kommt»

Bischof Felix Gmür sagt, die Schweizer Wirtschaft sei grundsätzlich gut aufgestellt. Allerdings sei die Work-Life-Balance ein veraltetes Konzept, das für eine Ausgeglichenheit zwischen Arbeit und Freizeit steht. Wichtiger ist jedoch, im Leben insgesamt balanciert zu sein.

Bischof Felix Gmür, nicht ausschliesslich die Wirtschaft hat an Ansehen in der Gesellschaft verloren. Auch der Glaube an die Kirche wurde in den letzten Jahren in Mitleidenschaft gezogen. Macht Ihnen diese Entwicklung Sorgen?
Unsere Gesellschaft hat vergessen, woher der Wohlstand kommt und dass das Leben auf diesem Planeten endlich ist. Die verschiedenen existenziellen Krisen der Gegenwart und die geopolitischen Veränderungen können jedoch zu einem Umdenken führen.

Die Corona-Pandemie und der Krieg in der Ukraine sind grosse Belastungen für uns alle. Finden Sie während diesen Krisen einen besonderen Zugang zu den Gläubigen?
Diese Verletzlichkeitserfahrungen führen uns zusammen und schaffen ein neues Gefühl der Solidarität und ein Bewusstsein der Verbundenheit. Wir erleben, dass Geld und Erfolg nicht das Wichtigste sind im Leben.

Glaubende Menschen vertrauen, dass sie in ihrem Leben, bei ihrer Arbeit, mit ihrer ganzen Person getragen und gehalten sind. Wie gross ist das Vertrauen der Solothurnerinnen und Solothurner in die Kirche?
Das kann ich nicht sagen. Der Kanton Solothurn gehört nach Basel-Stadt zu den Kantonen mit dem grössten Anteil an konfessionslosen Menschen. Aber ich hoffe sehr, dass die Kirche vielen Solothurnerinnen und Solothurnern eine stärkende Begleiterin ist. Glauben ist Vertrauenssache.

BISCHOF FELIX GMÜR

«Von einem Land wie die Schweiz kann man auch Solidarität erwarten.»

 

Wem vertraut die Gesellschaft heute?
Das ist sehr individuell. Aber vermutlich lernen derzeit viele Menschen, dass sich auch das Leben in der Schweiz nicht mehr nur linear entwickelt. Das schafft Unsicherheit. Das wirft uns auf den Moment zurück. Wir erfahren, dass das Leben im Jetzt stattfindet. Das ist aber auch ein Gewinn, weil wir den Moment auf sicher haben.

Die Kirche ist Teil der Volkswirtschaft. Darf oder muss sie sich in der säkularisierten, pluralistischen Gesellschaft am politischen Diskurs beteiligen und ethische Überlegungen einbringen? Vor allem wenn es um Fragen der Gerechtigkeit in der Wirtschaft, im Gesundheits-, Umwelt- und Sozialwesen geht?
Die Kirche ist Teil der Gesellschaft und als solche muss sie sich einbringen, wenn es um Fragen der Gerechtigkeit geht, sonst kann sie ihre christliche Mission nicht erfüllen.

Oft sind bei Debatten die gemeinsamen Nenner politische Parolen oder ökonomische Konzepte. Und in der Kirche? Wie gut finden Sie Gehör mit dem Gebot der Liebe?
In politischen Diskursen wäre «Verstehen-Wollen» auch eine Art Ausdruck von Liebe. Leider führt die Dynamik der Polarisierung zu Spannungsfeldern, die nicht damit überwunden werden wollen, sondern mit «schlagkräftigen Argumenten». Es geht darum, zu gewinnen – insbesondere auf Kosten der anderen.

Sie reden von Ökonomismus als Trend, der Industrieländer wie die Schweiz prägt und fast alle Lebensbereiche und -phasen durchdringt. Denken Sie, das Wirtschaftssystem ist heute belastender für Arbeitnehmende als noch vor 20 Jahren?
Der Broterwerb ist für alle belastender, weil der Markt härter geworden ist. Ge- trieben von globaler Konkurrenz und Digitalisierung verkürzen sich die Innovationszyklen und die Gewinnmargen werden in vielen Produktsparten enger.

Was könnte die Wirtschaft in Ihren Augen besser machen?
Man kann nicht verallgemeinern. Die Schweizer Wirtschaft ist grundsätzlich gut aufgestellt, muss aber schauen, dass sie bei der Entwicklung und Anwendung künstlicher Intelligenz den Anschluss nicht verpasst und bei allem das Wohl der Menschen in den Mittelpunkt stellt.

Sind es die jüngeren Generationen, die den Paradigmenwechsel vorantreiben und mehr auf Work-Life- Balance setzen?
Work-Life-Balance ist ein veraltetes Konzept. Es steht für eine Balance zwischen Arbeit und Freizeit. Wichtiger ist jedoch, insgesamt balanciert zu sein. Wenn ich bewusst einen Weg der Mitte gehe, findet das Leben immer statt – egal, ob im Geschäft oder in der Freizeit. Dann hat man mehr vom Leben.

Neben all den brennenden Themen ist noch der Krieg in der Ukraine dazuge- kommen. Sie haben als Bischof zum gemeinsamen Gebet und zur Solidarität aufgerufen. Die Politik hat Sanktionen verhängt, die Mitbürgerinnen und Mitbürger nehmen Flüchtlinge auf – die Schweiz zeigt sich solidarisch und hilfsbereit. Sind Sie stolz auf die Gesellschaft?
Es ist schön, dass die Schweiz auf eine sehr lange humanitäre Tradition zurückschauen kann und dies auch in der Gegenwart lebt. Aber von einem Land wie die Schweiz kann man auch Solidarität erwarten. <

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Zur Person

Bischof Felix Gmür studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Freiburg (Schweiz), München, Paris und Rom. Die Studien schloss er 1994 mit einem Lizenziat in Theologie, 1997 mit einem Doktorat in Philosophie und 2011 mit einem Doktorat in Theologie ab. 2004 ernannte ihn der Bischof von Basel zum Subregens im Priesterseminar St. Beat, Luzern. 2006 wählte ihn die Schweizer Bischofskonferenz zu ihrem Generalsekretär. Am 8. September 2010 wählte ihn das Domkapitel der Diözese Basel zum Bischof, am 23. November 2010 bestätigte Papst Benedikt XVI. die Wahl. Am 16. Januar 2011 wurde er von Kardinal Dr. Kurt Koch in der Kirche St. Martin in Olten zum Bischof geweiht.