Christoph Mäder: «Wir müssen über diese Entfremdung sprechen»

Christoph Mäder, Präsident von economiesuisse, ist erstaunt, dass die
Entfremdung von Wirtschaft und Gesellschaft überhaupt ein Thema ist. In einem Land, dessen Volkswirtschaft zu den stärksten der Welt gehöre. Er betont, dass es aber wichtig sei, über diese Entfremdung zu sprechen und auf eine Annäherung hinzuarbeiten. Der profunde Kenner analysiert und reflektiert.

Christoph Mäder, Sie beobachten eine Entfremdung von Wirtschaft und Gesellschaft. Wo zeigt sich diese Entwicklung am deutlichsten?
Zunächst finde ich es erstaunlich, dass wir in der Schweiz überhaupt über eine Entfremdung von Wirtschaft und Gesell­ schaft sprechen müssen. In einem Land, dessen Volkswirtschaft zu den stärksten der Welt gehört und in dem die Wirt­ schaft zu grossem Wohlstand und zu hoher sozialer Sicherheit geführt hat. Er­ rungenschaften, von denen man in vielen Ländern der Welt nur träumen kann. Aber ja, wir müssen über diese Entfrem­dung sprechen, wir müssen ihr begegnen und wir müssen versuchen, wieder auf eine Annäherung hinzuarbeiten. Denn die Wirtschaft ist ein zentraler Pfeiler der Gesellschaft. Wir beobachten eine Entfremdung mit unterschiedlichen Fa­cetten.

Können Sie die verschiedenen Facet­ten erläutern?
Eine dieser Facetten ist der zunehmende Glaube, dass nur der Staat mit neuen Ge­setzen und Vorschriften ökonomische, gesellschaftliche oder ökologische Proble­me lösen kann. Gewissermassen der Staat als Heilsbringer, weil die Unternehmen nicht willens oder nicht fähig sind. Eine zweite Facette ist die Vorstellung, dass Wirtschaftswachstum und Globalisierung gesellschaftlich ungerecht und umwelt­schädigend sind. Eine dritte Facette ist sicher ein Wertewandel, der unsere Ge­sellschaft erfasst hat.

 

CHRISTOPH MÄDER, PRÄSIDENT ECONOMIESUISSE

«Mit steigendem Wohlstand steigt der Stellenwert nicht materieller Bedürfnisse wie Gemeinschafts- und Identitäts­sinn, Anerkennung, Wertschätzung und Selbstverwirklichung.»

 

Das heisst?
Mit steigendem Wohlstand steigt der Stellenwert nicht materieller Bedürfnisse wie Gemeinschafts- und Identitäts­sinn, Anerkennung, Wertschätzung und Selbstverwirklichung. Der Stellenwert von guten Rahmenbedingungen für eine er­folgreiche Wirtschaft rückt in den Hinter­grund. Die vierte Facette der Entfrem­dung betrifft nach unserer Einschätzung weitverbreitete Ängste vor dem techno­logischen Wandel. Stichworte dazu sind etwa 5G oder Digitalisierung. Weitere Facetten betreffen die steigende Skepsis gegenüber Expertinnen und Experten und gegenüber dem System und den eta­blierten Institutionen wie Parteien oder Verbände.

Woher gründet diese aufkeimende Skepsis?
Diese hängt aus meiner Sicht mit zwei Aspekten zusammen: Einerseits verhielten sich einzelne Unternehmen immer wieder sorglos gegenüber Gesellschaft und Um­welt oder es gab Übertreibungen – zum Beispiel bei den Managerlöhnen. Ande­rerseits wird die Wirtschaft von Teilen der Gesellschaft als Problem für gesellschaft­liche und ökologische Probleme gesehen. Diese Haltung wird auch von aktivisti­schen NGOs – nicht ganz uneigennützig – emsig bewirtschaftet und mit Einzelfällen, die es leider gibt, «bestätigt».

Vertrauen heisst das Zauberwort. Ist dieses in der Gesellschaft gegenüber der Wirtschaft verloren gegangen?
Das glaube ich nicht: Verschiedene Stu­dien bestätigen ein anhaltend hohes Ver­trauen in die Wirtschaft. Das erstaunt mich nicht, denn unsere Wirtschaft hat bewiesen, dass sie leistungsstark ist und Krisen wie den Frankenschock, die Pande­mie oder die Folgen des Angriffskriegs von Russland gegen die Ukraine relativ gut meistern kann. Das Vertrauen in die Stärken der Wirtschaft ist da, ein gewisses Misstrauen gegenüber dem ethischen Verhalten der Unternehmen allerdings auch. Hier müssen wir ansetzen.

Und wie sieht es mit der Staats­gläubigkeit aus – vor allem seit der Pandemie?
Wie erwähnt, hat seit der Pandemie der Glaube zugenommen, dass nur der Staat mit neuen Gesetzen und Vorschriften ökonomische, gesellschaftliche oder öko­logische Probleme lösen kann. Viele mei­nen, Väterchen Staat werde schon helfen, weil die Unternehmen dazu nicht willens oder nicht fähig seien oder weil sie gar das eigentliche Problem darstellen würden. Diese Wahrnehmung wollen und müssen wir ändern. Sonst nimmt diese Entwick­lung kein gutes Ende.

Können diese Entwicklungen – die Wirtschaft wird als Teil des Problems und nicht als Teil der Lösung gesehen – die liberalen Rahmenbedingun­gen in der Schweiz gefährden?
Absolut. Wenn den Unternehmen dau­ernd neue Vorschriften gemacht werden, weil sie den gesellschaftlichen und ökolo­gischen Ansprüchen angeblich nicht aus­reichend Rechnung tragen, geht das zu Lasten der Innovationsfähigkeit.

Was hätte dieses Szenario für Folgen?
Das wäre verheerend, denn die hohe In­novationskraft der Schweizer Wirtschaft ist ein Grundpfeiler unserer Wettbewerbs­fähigkeit. Dieser müssen wir unbedingt Sorge tragen.

Mit anderen Worten: Die Schweiz als Wirtschaftsstandort könnte als Gan­zes leiden?
Genau. Die relativ liberalen Rahmenbedin­gungen sind für Schweizer Unternehmen und den Wirtschaftsstandort Schweiz ein riesiges Plus. Nicht umsonst gehört die Schweiz zu den innovativsten und wett­bewerbsfähigsten Volkswirtschaften der Welt.

Gemäss der Rangliste des WEF Global Competitiveness Rankings hat die Schweiz in den letzten Jahren an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Grund zur Sorge?
Allerdings! Die Wettbewerbsfähigkeit un­seres Landes ist die Basis unseres Wohl­stands und sie hilft uns darüber hinaus, besser durch Krisen zu kommen als viele andere Volkswirtschaften. Politik und Verwaltung sollten jede Regulierung vermehrt daraufhin überprüfen, ob diese die Wettbewerbsfähigkeit fördert oder behindert.

Sie sprechen von einer visiblen, trans­parenten und glaubwürdigen Positio­nierung der Wirtschaft. Was muss sich ändern?
Wir müssen erstens unsere Positionen ganz bewusst auch vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Ansprüche festlegen. Dann müssen wir zweitens mehr Partizi­pation wagen, das heisst, zusammen mit anderen gesellschaftlichen Gruppierun­gen gemeinsam Lösungen erarbeiten und schliesslich müssen wir für unsere Über­zeugung vermehrt in der Öffentlichkeit hinstehen. Viele Exponenten der Wirt­schaft haben sich in der Vergangenheit aus der öffentlichen Debatte zurückgezo­ gen. Das ist falsch.

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